In den sozialen Netzwerken wurde ich auf ein Buch aufmerksam, dessen beiden Herausgeber mir wohlbekannt sind: Gerold Brägger als Geschäftsführer von IQESonline.net und Hans Günther Rolff als Gründer des Institut für Schulentwicklungsforschung der TU-Dortmund. Meine erste Assoziation zum Titel „Handbuch Lernen mit digitalen Medien“: Wow, zwei Experten auf dem Weg, uns das Lernen mit digitalen Medien zu erläutern. Denn, ein Handbuch (griechisch ἐγχειρίδιον encheiridion‚ „etwas, das man in der Hand hält“) ist in der Literatur eine geordnete Zusammenstellung eines Ausschnitts des menschlichen Wissens und kann als Nachschlagewerk dienen1.
Mein nächster Blick in das Inhaltsverzeichnis gibt eine erste Antwort, wie sie diesem Anspruch gerecht werden wollen: mit der Einladung an viele Who’s Whos der Medienexpert*innen des deutschsprachigen Raums, sich an diesem Buchprojekt zu beteiligen. Beeindruckend die Autor*innenliste! Der Beltz-Verlag bewirbt das Buch so:
Digitale Medien eröffnen Chancen für den binnendifferenzierten Unterricht und eine neue Lernkultur, bergen bei einem unkritischen Einsatz aber auch Risiken. Inwiefern können sie personalisiertes und kooperatives Lernen sowie einen lernwirksamen Unterricht mit heterogenen Gruppen fördern?
Dieses Handbuch bietet auf dem aktuellen Stand der Praxis und der wissenschaftlichen Forschung konkrete Impulse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Dabei gehen die Autor_innen insbesondere auf die Merkmale eines kompetenzorientierten Unterrichts ein und untersuchen, inwiefern sich der Einsatz digitaler Medien speziell für dieses pädagogische Konzept anbietet. Andere Beiträge befassen sich mit Lernplattformen, Learning Analytics sowie mit Unterrichtskonzepten, die einen hybriden, das heißt gemischten Einsatz digitaler und analoger Lernsettings vorsehen. Das Handbuch schließt mit einem Überblick zu digitalen Medien im Unterricht, gibt dazu didaktische Empfehlungen und bringt Ideen für die Praxis.
Vorbemerkungen
Wichtig für das Gesamtverständnis des hier vorgestellten Buchs ist das Kapitel 1 (dazu gleich mehr) und der Arbeitshintergrund des Schweizer Erziehungswissenschaftlers Gerold Brägger: Er verantwortet die beiden Plattformen IQES-Online und IQES Lernkompass. Während man sich IQES-Online als eine Bibliothek mit Fachtexten und Materialien für die Unterrichtspraxis und einem Evaluationscenter vorstellen kann, wird mit dem IQES-Lernkompass den Lehrkräften eine Arbeits- und Lernplattform zur Verfügung gestellt, die ein kompetenzorientiertes Unterrichten und Beurteilen ermöglichen soll. Erreicht wird das mit einer personalisierten Lernumgebung, die
- Lernprozesse nachvollziehbar und lernwirksam beurteilt,
- die lernwirksames Feedback und Schüler*innenselbstbeurteilung ermöglicht, dabei
- Kompetenzen sichtbar macht und
- Zusammenarbeit effizient und effektiv gestaltet.
Ziel der Plattform: Nachhaltige Schul- und Unterrichtsentwicklung und Förderung von Medien- und IT-Kompetenzen im Verbund mit fachlichem Lernen, so die Aussagen aus einem Dossier des Bildungsraums Nordwestschweiz2.
IQES-Online kenne ich aus meinen eigenen (ehemaligen) Arbeitszusammenhängen und kann die Plattform ohne jeden Vorbehalt empfehlen. Zur Arbeit mit dem Lernkompass liegen keine eigenen Erfahrungswerte vor. Mir sind keine externen Evaluationen bekannt. Die Plattform selbst weist (noch) keine Referenzen aus. Somit bleibt es jeder Schule erst einmal selbst überlassen, eigene Erfahrungen zu sammeln. Ich denke aber, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch hier belastbare Ergebnisse im Umgang mit der Plattform bekannt gemacht werden.
Das Handbuch
Fast 1000 Seiten. Fast zwei Kilogramm Gewicht. Kaum zu handeln. Gut, dass eine E-Book Variante „inside“ angeboten wird. Nach einer Registrierung erhält man einen Link. Die personalisierte PDF-Datei kann von allen gängigen PDF- Readern geladen werden.
Das Buch durchzieht einen roten Faden: Nicht die Lehrkraft steht im Mittelpunkt der Überlegungen, Aussagen, Analysen der Autor*innen, sondern die Adressaten der Unterrichtsangebote: die Schülerinnen und Schüler. Das beginnt gleich im ersten Teil. Es wird ein Akzent auf die digitale (Er)Lebenswelt der Jugendlichen mit Schlussfolgerungen auf die pädagogische Arbeit in den Schulen gesetzt. Hieraus entwickeln sich dann die weiteren Überlegungen zu einer damit korrespondierenden Unterrichts- und Schulentwicklung. Ungewöhnlich, aber das Selbstverständnis des pädagogischen Ansatzes und damit das Gesamtverständnis dieser Veröffentlichung eher befördernd: Die beiden Herausgeber Gerold Brägger und Hans Günter Rolff bringen sich sowohl im ersten Teil wie auch in weiteren Beiträgen als Mitautoren ein.
Bei so vielen Beiträgen verbietet sich eine individuelle Würdigung. Daher gleich zusammenfassend:
Die Beteiligung der Medienexpert*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind ein Gewinn für das Buch. Die Publikation bildet den aktuellen Forschungsstand ab. Die Beiträge sind mit einer Fülle von Literaturhinweisen ausgestattet, die eine intensivere Auseinandersetzung ermöglichen. Die Praxisbeträge unterstützen die theoretischen Einführungen exemplarisch, nicht vollständig. Manchen Überlegungen hätte ich einen höheren Konkretisierungsgrad gewünscht.
Das Buch wird dann dem Anspruch der o. g. Wikipedia Kennzeichnung eines Nachschlagewerks gerecht, wenn es sachlich wie fachlich wenig Angriffsfläche bietet. Da scheinen Zweifel angebracht, wie ein kürzlich von Joachim Paul in Heise online veröffentlichter Beitrag Schule Digital: Lernplattformen und die zu geringen Bandbreiten der Politik zeigt. In der Tat sorgt eine fehlende Trennschärfe der IT-Begriffe Cloud, LMS und MDM für viel Interpretationsspielraum in der politischen Diskussion. Das lässt sich ja in einer späteren und überarbeiteten Auflage „heilen“. Schwieriger wird es jedoch, wenn sich zwischen Buchlegung und Veröffentlichung pädagogische Einschätzungen ändern, wie der Kommentar von einem der Autor*innen, Heiko Pöllert andeutet:
Da ist er, der dicke Wälzer: 981 Seiten geballte Informationen zum "Lernen mit digitalen Medien".
Auch einige KuK aus dem #twitterlehrerzimmer.
Hat Spaß gemacht, aber meinen #Geschichte-Beitrag würde ich 1,5 Jahre nach Abgabe komplett überarbeiten.
Print + work in progress = ? pic.twitter.com/8noXnsCIlw— Hauke Pölert (@HPoelert) May 26, 2021
Für welche Zielgruppe eignet sich die Veröffentlichung?
Ganz sicher für die Ausbildner*innen der Lehrkräfte, erste wie zweite Phase: Das Handbuch kann in der universitären und unterrichtsvorbereitenden Ausbildung genutzt werden, sei es in der Vorlesung, sei es in den Seminaren, sei es durch einen Praxisauftrag bei den schulpraktischen Übungen bzw. Unterrichtsbesuchen. Fort- und Weiterbildungen initiierende pädagogische Einrichtungen und Medienzentren sowie an den Bildungspakt umsetzende Schulträger erhalten über die Abhandlungen einen Einblick in relevante Fragestellungen der mediepädagogischen Arbeit weitere Orientierungsmöglichkeiten.
Und, last but not least werden innovative Schulleitungen, Steuergruppen und Lehrkräften angesprochen, die mehr über
- Persönlichkeitsentwicklungen der Jugendlichen unter digitalen Bedingungen,
- die Entwicklung einer kompetenzorientierten und mediengestützten Lernkultur sowie
- personalisiertes Lernen und Learning Analytics
erfahren bzw. terminologisch einordnen wollen.
Was man von den Ausführungen nicht erwarten sollte: eine unmittelbare, individuelle wie schulweite Umsetzung. Die Konzepte, Ideen spannen einen so großen Bogen um mediendidaktische Fragestellungen, die man erst einmal im Team, in der Schulgemeinde aufdröseln, durchdringen und diskutieren muss. Das gilt sowohl für ein kompetenzorientiertes Unterrichtsverständnis, den damit verbundenen Freiheitsgraden an Lehrende wie Lernende und nicht zuletzt für den Einsatz von Werkzeugen zu Learning Analytics. Apropos:
Vermutlich wird bei einigen Leser*innen der Wunsch entstehen, die beiden Schweizer Plattformen näher kennenlernen zu wollen. Das geht kurzfristig durch ein Testzugang (ein Monat). Mittel- und längerfristig gibt es u. U. die beiden folgenden Wege: der eine – bei Lernmittelfreiheit der Länder – mittels einer Finanzierung durch das schuleigene Budget. Der andere durch eine Lizenzierung durch das Land/ den Schulträger: Es gibt viele länderspezifische und kommunale Modelle, die bereits erfolgreich „laufen“. Wer bettermarks, edkimo, it’s tearning, iServ und Co. finanzieren kann, kann auch eine der IQES- Plattformen ermöglichen.
Bildnachweis: @Beltz mit freundlicher Genehmigung der Presseabteilung