Ewig und drei Tagediskussion über das Für und Wider

Schon im Vorfeld (Vorankündigung des Strategiepapiers durch die KMK, Mitteilung durch BM Wanka eines „Digital-Pakt“) wurde – wie immer bei diesem Thema – leidenschaftlich über Chancen und Gefahren berichtet. Ein Blogbeitrag 1 von Tobias Hübner fasst die Aufregungen des Oktobers 2016 zusammen.

Lehrende wie Eltern führen immer wieder gerne Prof. Spitzer an, um auf Gefahren hinzuweisen („Digitale Demenz“). Manche interpretieren die Aussagen des Mediziners vergleichbar einer Fotomontage von Prof. Strasser aus seinem Vortrag2:

 

Die Kritiker verweisen häufig auf die als fast ausschließlich wahrgenommene Mediennutzung („Daddelei“) ihrer Kinder und die damit verbundene Vernachlässigungen in basalen Bereich. Nicht ganz zu unrecht, wie die BITKOM- Studie mit den Aussagen

  • Viele Lehrer fürchten negative Auswirkungen auf die Schreibfertigkeiten ihrer Schüler (87 Prozent) durch den Einsatz digitaler Medien.
  • Zudem werde das konzentrierte Lernen durch die Geräte gestört, sagen immerhin 57 Prozent.
    bestätigt.

Übrigens hat sich Ingrid Bounin (Landesmedienzentrum Baden Württemberg) der Thesen des Hirnforschers angenommen und eine Stellungnahme verfasst.3Dabei schreibt sie, dass

Manfred Spitzer von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm, nicht (anzulasten sei), dass er Probleme benennt. Anzulasten ist Spitzer vielmehr, dass er keine zukunftsorientierte Lösungen bietet, dass er all jenen, die sich mit großem Engagement, mit viel Ernsthaftigkeit um eine sinnvolle und verantwortliche Nutzung der digitalen Medien bemühen in die Parade fährt und mit billiger Demagogie alle Bemühungen um eine ernsthafte Auseinandersetzung zu verhindern sucht.

In der Stellungnahme kommen vor allem Wissenschaftler zu Wort, die eine dezidiert gegensätzliche Position zu Spitzers Thesen einnehmen. Es gibt leider nur ganz wenige direkte Auseinandersetzungen mit Spitzer. Eine habe ich in einem Heft von Ökotest gefunden4. Aber auch hier dürften die beiden Wissenschaftler (Prof. Spitzer, Prof. Neuss (Gießen)) nicht an einem Tisch gesessen haben…

Lassen Sie uns nach vorne schauen und Kenner der Szene zu Wort kommen, die sich des Themas konstruktiv annehmen und Überlegung vorstellen, die bei der Entwicklung der Kompetenzen Berücksichtigung finden sollten. Eine Auswahl von Zitaten:

Timotheus Höttges, CEO Deutsche Telekom:

 

Ich glaube, dass Bildung bei dieser Gestaltungsaufgabe ein wesentlicher Faktor ist, und zwar durchaus Bildung im Humboldt’schen Sinne. Zugleich stimme ich dem Informatiker Joseph Weizenbaum zu, der Lesefähigkeit, Skeptizismus und Kritikfähigkeit als Voraussetzungen dafür nennt, das Medium Internet sinnvoll zu nutzen – und in meinen Augen auch dafür, sich zu selbstbestimmten, selbstdenkenden und damit zu freien Individuen zu entwickeln. Daraus würde ich aber eben nicht ableiten, dass Computer aus Klassenzimmern zu verbannen sind. Sondern eher dass das Bildungssystem erweitert werden muss um die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, die in der digitalen Welt wichtiger werden und nützlich sind. Das erschließt sich leicht durch den Blick auf die zu gestaltenden Objekte: unsere Welt. Unser Leben. Vor allem: unser Zusammenleben. Denn all das ist bereits digital und wird noch digitaler. Wir müssen also auch unseren Kindern digitale Angebote machen, um Begegnungen mit dem Digitalen zu ermöglichen, das Lernen zu erleichtern und so zur Bildung beizutragen. (…) Dazu gehört für mich ganz klar das Programmieren. Unsere Kinder lernen Englisch in der Schule – eine Weltsprache. Aber auch Programmiersprachen sind global. Java, Ruby und Co. werden weltweit genutzt und ermöglichen länderübergreifende Zusammenarbeit im digitalen Segment. Gleichzeitig gilt, was der Medientheoretiker Douglas Rushko gesagt hat: „Programmiere oder werde programmiert.“ Seine Überzeugung ist, dass nur, wer selbst programmieren kann, in der Lage ist zu verstehen, wie die digitale Welt funktioniert – und sie damit auch mitgestalten kann. Ein Beispiel dafür, wie wichtig digitales Wissen und digitale Fähigkeiten eben auch für die Bildung sind. Anwendung und Reflektion gehen Hand in Hand. Dafür braucht es nicht einmal ein eigenes Schulfach; Mathematik und Informatik bieten schon heute den richtigen Rahmen.5

 

 

Lisa Rosa, ehem. Lehrerin in Hamburg:

 

„Das Herzstück von „Lehre“ und „Unterricht“ besteht nicht mehr in der Didaktisierung bereits vom Lehrer ausgewählter Materialien, sondern in der Didaktisierung (Auswahl und Bereitstellung) von Lernumwelten/Infrastrukturen/Zugängen. (Das knüpft an Montessori „Hilf mir es selbst zu tun“ und Deweys Projektlernen an). (…) Individualisierung heißt nicht, jeder für sich allein. Individualisierung bedeutet Orientierung des Lernens jedes Einzelnen am persönlichen Sinn (= persönliche Beziehung des Lerners zum Gegenstand). Erst dadurch wird die Orientierung des Projektlernens an den eigenen Fragen der Schüler (statt an den didaktischen Fragen des Lehrers oder Lehrbuchs) wirklich. Und nur so können sich die ja zu Recht neuerdings hoch bewerteten Fähigkeiten in Kreativität und Kritischem Denken („Mündigkeit“, Urteilsfähigkeit etc), erlernen sowie viele der sogenannten „Motivationsprobleme“ beheben lassen. Individualisierung heißt nicht, dass jeder andere Methoden oder Materialien oder Aufgaben zugeteilt bekommt, um dasselbe zu lernen. Individualisierung heißt, mit anderen zusammen verschiedenes zu lernen. Aber nicht nebeneinanderher, sondern im Austausch miteinander. Dies alles in eine organisierte Form zu bringen und zu moderieren, sowie Einzelne dabei zu coachen, ist die neue und notwendige Arbeit der Lehrer.6

 

 

Weiterführendes Material

 

  • Christian Stöcker in Spiegel Online mit der Frage: Warum kaufen die Leute sowas eigentlich? Rezension eines Spitzer Buchs
  • Patricia Cammarata, ZEIT LEO- und Buchautorin mit einem Blogbeitrag, der dafür wirbt, über Medienzeitbegrenzung zu diskutieren, AUF WELCHE WEISE digitale Medien genutzt werden und nicht WIE LANGE und OB überhaupt.
  • Tweet zum Thema mit vielen Tipps zu (Gegen)Reaktionen, u.a. Beat Doebeli mit “Argumente gegen das Digitale in der Schule”
  • Wozu digitale Medien in der Grundschule? Sollte das Thema Digitalisierung in der Grundschule tabuisiert werden? Auszug aus Grundschule aktuell

just ask! im Gespräch mit Prof. Dr. Gerald Lembke und Ingo Leipner (Buchautoren: “Die Lüge der digitalen Bildung”) auf dem Bildungskongress 2016 in Bamberg: Im Buch “Die Lüge der digitalen Bildung” vertreten die beiden Autoren, Herr Prof. Dr. Lembke und Herr Leipner, die These: “Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter”. Sie berufen sich dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse, dass die kognitive Entwicklung von Kindern primär über Erfahrungen im sensomotorischen Bereich erfolgt. D.h. es ist aus Sicht der Autoren wichtig, dass Kinder “mit realen Sinnen reale Dinge wahrnehmen”. Daher empfehlen Sie, in Kindergarten und Grundschule keine digitalen Medien einzusetzen. Die Autoren plädieren dafür, erst ab dem 10ten bis 12ten Lebensjahr den Lernprozess von Kindern und Jugendlichen in geeigneten Lerngebieten durch E-Learning zu unterstützen.

Footnotes

  1. https://medienistik.wordpress.com/2016/10/30/oktober-2016-rueckblick-auf-einen-denkwuerdigen-monat
  2. https://www.zukunftsschulen-nrw.de/fileadmin/user_upload/homepage/downloads/PDF_I%20have%20a%20stream%20Zukunftsschulen%20Keynote.pdf
  3. https://web.archive.org/web/20170624083316/https://www.lmz-bw.de/medienbildung/aktuelles/mediaculture-blog/blogeinzelansicht/2012/stellungnahme-zu-manfred-spitzers-thesen.html
  4. https://www.oekotest.de/bin/hefte/M1301-Kindermedien.pdf
  5. https://merton-magazin.de/wer-wagt-hat-schon-gewonnen
  6. https://shiftingschool.wordpress.com/2016/10/24/welche-digitale-bildungsrevolution-wollen-wir/