Wenn ich an meinen Erdkundeunterricht in den 1970er Jahren zurückdenke, dann erinnere ich mich an den Kartendienst, bei dem wir eingerollte Karten in/aus verstaubten und muffigen Räumen transportierten und an das umständliche Hantieren/Rangieren mit dem Kartenständer im Klassenraum. Der Unterricht basierte überwiegend auf klassischen Schulbüchern, Atlanten und Wandkarten. Ein zentrales Element war die Kartenarbeit: Wir lernten, Karten zu lesen, zu interpretieren und geografische Zusammenhänge zu erkennen. Das Schleppen der „DIERKE – Atlanten” war sicher kein Vergnügen. Die Inhalte reichten von physischen Grundlagen (Klima, Vegetation, Landschaftszonen) über Wirtschafts- und Sozialgeographie (Industriestandorte, Stadtentwicklung, Weltwirtschaft) bis hin zu politischen und globalen Themen (Nord-Süd-Gefälle, Entwicklungsländer). Da Kopierer noch nicht flächendeckend vorhanden waren, wurden Arbeitsblätter mit Matrizen vervielfältigt. Der typische Geruch von Spiritus-Matrizen ist mir noch heute in den Nase.
Der Unterricht war meist lehrerzentriert. Es dominierte der Frontalunterricht, bei dem unser Lehrer Wissen vermittelte und wir überwiegend zuhörten, mitschrieben und auswendig lernten. Der Fokus lag stark auf der Vermittlung von Faktenwissen und weniger auf eigenständigem Arbeiten oder kritischer Reflexion. Unsere Interessen wurden kaum nachgefragt.
Technische Hilfsmittel waren begrenzt. Overheadprojektoren, Wandkarten und Globusse prägten das Bild. Digitale Medien spielten keine Rolle. Sprachlabore, wie wir sie ab und an im Englischunterricht nutzten, waren im Geografieunterricht unüblich.
Mit dem folgenden Bild, das die Breite Afrikas und Russlands vergleicht, will ich nun zur Vorstellung und Besprechung des o.g. Buchs überleiten.

Kürzlich verbreitete sich das Bild wie ein Lauffeuer in verschiedenen sozialen Netzwerken und stellte alles, was man über Geografie zu wissen glaubte, auf den Kopf. Einer bat sogar darum, ihm das mit dem Verständnis eines Fünfjährigen zu erläutern. Nun ja, daraus wird im Folgenden nichts.
Es zeigt, dass sich Afrika von West nach Ost 7.200 Kilometer erstreckt – und damit weiter als die 6.400 Kilometer zwischen Europa und Ostrussland. Dennoch erscheint Afrika auf den meisten Karten kleiner. Viele fragen sich: Warum?
Mercator vs. Gall-Peters
So auch Paulina Rowińska:
Auf der Wandkarte war Grönland so groß wie ganz Afrika, doch auf dem Globus übertraf die Fläche des afrikanischen Kontinents die der weißen Insel bei Weitem. Ich spürte tief in meinem Inneren, dass da etwas nicht stimmte.
Paulina Rowinska gilt als eine aufstrebende Wissenschaftskommunikatorin mit einem Doktortitel in Mathematik und Statistik vom Imperial College London. Sie erklärte in ihrem TEDX-Vortrag 2017 ‚Let’s Have A Math Party!‘, dass Mathematik überall um uns herum ist. Mapmatics ist ihr erstes Buch.
Die Mathematik spielt eine zentrale Rolle für das Verständnis von Karten, da sie die Grundlage für die Erstellung, Verzerrung und Interpretation von Karten bildet. Rowińska zeigt in ihrem Buch, dass mathematische Prinzipien notwendig sind, um die geometrischen und physikalischen Probleme bei der Abbildung einer gekrümmten Erde auf eine flache Karte zu verstehen. Beispielsweise erklärt sie, wie die Mercator-Projektion durch mathematische Formeln verzerrt und warum diese Verzerrungen unweigerlich sind, da die Oberfläche der Erde gekrümmt ist. Die Mathematik ermöglicht es, die Grenzen der Kartographie zu erkennen, Fehler zu verstehen und bewusst mit den Verzerrungen umzugehen.
Diese Verzerrung passt (…) zur allgemeinen Weltsicht vom mächtigen Norden und dem unbedeutenden Süden. In der Mercator-Projektion hat ganz Südamerika eine mit Grönland vergleichbare Größe, obwohl es in Wahrheit achtmal größer ist. Das scheinbar riesige Alaska ist in Wahrheit kleiner als das nach Mercator so unscheinbare Libyen.
Zudem erklärt sie, wie mathematische Werkzeuge wie Triangulation oder Logarithmentafeln verwendet werden, um Karten zu erstellen und deren Genauigkeit zu verbessern. Insgesamt ist die Mathematik integraler Bestandteil, um die Konstruktion, die Grenzen und die Auswirkungen von Karten auf unser Weltbild zu begreifen.
Zur Veranschaulichung der mathematischen Phänomene hier nun einige „Auflösungen“:
Der Kartograf fand eine Lösung, die Kugelform der Erde auf Karten umzusetzen – eine bahnbrechende Entwicklung für die Seefahrt.
- Größenvergleich Afrika mit verschiedenen Ländern: Bild 1, Bild 2
- Größenvergleich nach Gall-Peters
Eine flächentreue Projektion, die die wahren Größenverhältnisse der Kontinente zeigt.
Die Flagge der Vereinten Nationen besteht aus dem weißen Emblem auf himmelblauem Hintergrund. Das Emblem zeigt eine azimutale äquidistante Projektion der Weltkarte mit dem Nordpol als Mittelpunkt, wobei der Globus an der Datumsgrenze ausgerichtet ist . Die Projektion der Karte erstreckt sich bis zum 60. südlichen Breitengrad und umfasst fünf konzentrische Kreise. [1]https://en.wikipedia.org/wiki/Flag_of_the_United_NationsHätten Sie es gewusst?
Ausführliche Darstellung mit Bezug der Ausgangsfrage (s.o.).
Geschichte und Politik
Neben der Mathematik spielen auch andere Schulfächer wie Geschichte und Politik eine bedeutende Rolle beim Verständnis von Karten. Rowińska hebt hervor, dass Karten nicht nur technische Dokumente sind, sondern auch gesellschaftliche und politische Dimensionen besitzen. Beispielsweise vermeidet die Mercator-Projektion nicht nur mathematische Verzerrungen, sondern zeigt auch eine europazentrische Sichtweise, die politische Implikationen hat, indem sie bestimmte Kontinente kleiner oder größer erscheinen lässt als in Wirklichkeit.
In ihrem Buch wird außerdem deutlich, dass historische Aspekte der Kartenerstellung, wie die Seekartentricksereien von Kolumbus oder die Entwicklung der Kartografie im Laufe der Geschichte, das Verständnis für die Entstehung und den Einfluss von Karten erweitern. Diese historischen Einblicke sind auch für den Geschichtsunterricht relevant und verdeutlichen, wie Karten die Weltanschauung und gesellschaftliche Strukturen geprägt haben.
Darüber hinaus zeigt Rowińska, dass Karten wichtige Werkzeuge in der Politik, etwa bei der Wahlkreiseinteilung (USA, Ungarn, Polen). Die Manipulation oder Verzerrung von Karten kann politischen Entscheidungen zugrunde liegen, weshalb das Verständnis gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge durch Kenntnisse in diesen Fächern unterstützt wird.
Einfluss der Karten auf unser Leben
Karten beeinflussen unseren Alltag und unsere Entscheidungen auf vielfältige Weise, indem sie uns helfen, Informationen zu verorten, Zusammenhänge zu erkennen und Handlungen zu planen. Rowińska hebt in ihrem Buch hervor, dass Karten nicht nur geografische Darstellungen sind, sondern auch in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Umwelt lebensrelevante Entscheidungen erleichtern oder sogar retten können. Beispiele dafür sind etwa Karten von Krankheitsepidemien, die helfen, Ausbrüche einzudämmen und Maßnahmen zu ergreifen, oder Karten von Schulbezirken, die den Zugang zu Bildung beeinflussen und den späteren Schulerfolg bestimmen.
Im Alltag begegnen wir Karten ständig, sei es bei der Navigation mit GPS, bei der Planung von Reisen oder beim Verstehen regionaler Unterschiede. Die Verzerrungen und Grenzen, die Rowińska anhand der mathematischen Hintergründe erklärt, sind auch in Anwendungen wie Wahlkreisen, Verkehrsnetzen oder Klimamodellen sichtbar: Sie prägen, wie wir Orte wahrnehmen und welche Entscheidungen wir treffen. Die Wahl einer Route, die Platzierung von Infrastruktur oder die Einschätzung von Umweltgefahren basieren alle auf Karten, deren Erstellung durch komplexe mathematische Überlegungen beeinflusst wird.
MINT-Fächer in der Kultur der Digitalität
Ausgehend von den Seekartentricksereien des Christoph Kolumbus’ bei der Organisation seiner Entdeckungsreisen werden wir durch die Mathematik unendlich langer Küstenlinien, Wahlkreisverschiebungen (Gerrymandering), problematischer preußischer Brücken, der Suche nach Flugzeugwracks über dem Atlantik und der Entdeckung des Erdaufbaus geführt. Wir erfahren etwas über das umfangreiche mathematische Thema, das der Karte der Londoner U-Bahn zugrunde liegt, sowie über die Ungerechtigkeiten, die sich aus der Festlegung von Schulbezirksgrenzen in den Vereinigten Staaten ergeben.
Der Geografieunterricht von heute unterscheidet sich deutlich von dem der 1980er Jahre, da digitale Medien stark integriert sind. Digitale Tools wie Google Earth, interaktive Kartenabfragen oder Apps zum Zeichnen eigener Karten oder Klimadiagramme sind heute gängige Mittel, um geografische Inhalte interaktiv und anschaulich zu vermitteln. Fortgeschrittene Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) werden zunehmend genutzt, um Lerninhalte immersiv erlebbar zu machen, beispielsweise durch virtuelle Exkursionen oder interaktive 3D-Modelle.
Fächerübergreifender Unterricht (Mathematik, Geografie, Politik und Wirtschaft, …) fördert die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, sich in Raum und Umwelt zu orientieren, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und reflektierte, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Er unterstützt die politische Bildung und bereitet Schülerinnen und Schüler auf die Herausforderungen einer digitalisierten und globalisierten Welt vor.
Noch einmal Rowińskas:
Unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entscheiden, welche Karten wir brauchen. Andererseits haben Karten unsere Geschichte verändert, und sie werden zweifellos auch unsere Zukunft verändern. Karten von Krankheitsepidemien können Leben retten; Karten von Schulbezirken können den späteren Schulerfolg von Kindern erleichtern oder behindern; Karten vom Meeresgrund können uns helfen, die Effekte des Klimawandels abzumildern. Hinter jeder Karte steckt Mathematik. Mathematik hilft Kartographen, die jeweils am besten geeignete Projektion auszuwählen, indem sie die damit einhergehenden Verzerrungen erklärt. Mathematik ermöglicht es Liefer- und Zustelldiensten, die optimalen Routen für ihre Fahrer zu planen. Mathematik steht uns zur Seite, wenn wir durch labyrinthische Städte fahren. Wann immer wir eine Karte öffnen, halten wir die Ergebnisse von Jahrhunderten mathematischer Forschung in Händen. Selbstfahrende Autos wären vermutlich immer Science-Fiction geblieben, hätte Gauss nicht an Kurven geforscht, Snell die Triangulation nicht verbessert, Euler nicht die Graphen erfunden – und das alles schon vor Hunderten von Jahren.
Wer für die beginnende Sekundarstufe etwas sucht, für den bietet sich vielleicht Mapstories an?! Der Anbieter schreibt: Hier werden Geschichten rund um die Welt erzählt! Das Tool bietet vielfältige Optionen, um globale Zusammenhänge mithilfe von Orten als Stationen auf einem Globus zu veranschaulichen. Durch das Einbinden eigener Medien und Inhalte bekannter Plattformen wie zum Beispiel Youtube, TikTok oder Google Street View können Nutzer:innen ab 13 Jahren interaktive Mapstories gestalten. So werden Fragestellungen des Globalen Lernens und der Bildung für nachhaltige Entwicklung im Sinne des Storytellings innovativ erarbeitet und dargestellt. In der Galerie finden Sie Beispiele für Mapstories.
Zusammenfassung
Rowiński gelingt es, selbst komplexe mathematische und kartographische Themen lebendig, anschaulich und für Laien verständlich zu erklären – oft mithilfe von Anekdoten und zahlreichen Grafiken. Wer es genauer wissen möchte, kann die zahlreichen Querverweise und Quellenhinweise nutzen. Mapmatics ist in Form einer episodischen Geschichte geschrieben und erzählt von kartografischen und mathematischen Durchbrüchen. Mathematische Symbole sind auf ein Minimum beschränkt. Daher empfehle ich das Buch für Schülerinnen und Schüler, die sich für ein MINT-Studium interessieren. Vor allem die Vorstellung zweier Frauen sollte junge Frauen motivieren, sich den Naturwissenschaften zu nähern. Gegen alle Widerstände gelingen ihnen Lösungen.
Rowiński selbst beschreibt das so:
Große Bereiche unseres Planeten wären heute noch immer rätselhaft ohne die außergewöhnlichen Leistungen von zwei außergewöhnlichen Frauen – Inge Lehmann und Marie Tharp – und vielen anderen, die in ihre Fußstapfen getreten sind. Mathematiker und Kartographen hatten nicht nur Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen, sondern auch darauf, wie wir in ihr funktionieren. Mit dem Smartphone in der Tasche halten wir Karten für etwas Selbstverständliches und vergessen all die großartige Wissenschaft und die Technologie, denen sie ihre Existenz verdanken. Alle Karten haben Schwächen, und doch wäre unsere Wirklichkeit ohne sie eine ganz andere. Selbst wenn sie zwangsläufig nicht perfekt sein können, machen Karten unser heutiges Leben erst möglich.
Und als Bestätigung für die Leistungsfähigkeit von Frauen im MINT-Bereich, insbesondere in der Krankenpflege, empfehle ich diesen Podcast:
Als die britische Krankenschwester Florence Nightingale am 4. November 1854 im Lazarett in Scutari ankommt, sterben im Schnitt vier von zehn Patienten. Mithilfe von statistischen Analysen und deren visueller Aufbereitung kann Nightingale die Sterblichkeitsrate unter den verletzten und kranken Soldaten drastisch senken.
Wer noch weitere Impulse für Themen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung/Statistik sucht:
Stay tuned
Bildnachweis: Ausschnitt aus Buchcover
References