Kürzlich ist das Buch Der Gedanken-Code von Janosch Delcker erschienen. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin. Als Chief Technology Correspondent der Deutschen Welle berichtet er über künstliche Intelligenz und Digitalpolitik. Zuvor hat er längere Zeit für das amerikanische Magazin Politico gearbeitet, das ihn 2018 zum weltweit ersten „KI-Korrespondenten“ machte. Seine Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von der US Foreign Press Association.

Decker stellt Überlegungen zur Künstlichen Intelligenz (KI) an, insbesondere zu ihrer Fähigkeit, Gedanken zu entschlüsseln („Mind-Reading-AI“). Er warnt davor, dass KI-Technologien in naher Zukunft in der Lage sein könnten, menschliches Denken zu entschlüsseln und den Alltag grundlegend zu verändern, insbesondere durch möglichen Missbrauch. Für das pädagogische Personal einer Schule sowie für Eltern dürfte ein möglicher Transfer der beschriebenen Auswirkungen auf Bildung, Erziehung und die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen von Interesse sein. So erläutert er im Kapitel zu Big Data und maschinellem Lernen, wie KI lernt, persönliche Präferenzen zu verstehen und zu antizipieren. Darüber hinaus erläutert Decker im Kapitel über Emotionserkennung, wie KI versucht, Emotionen zu entschlüsseln und wie diese Technologien zur Überwachung des emotionalen Wohlbefindens eingesetzt werden könnten. Im Kapitel über Brain-Computer Interfaces und Mind-Reading KI wirft er ethische Fragen auf. Insbesondere seine Beobachtung, dass KI in die Privatsphäre eindringt und möglicherweise Gedanken lesen kann, dürfte für viele Pädagogen irritierend, wenn nicht gar beängstigend sein.

TIKTOK

Decker stellt TikTok als Paradebeispiel für die Fähigkeit von Algorithmen und maschinellem Lernen vor, die Interessen der Nutzer in bisher nicht gekannter Weise zu verstehen. Das System erfasst, welche Videos wie lange angeschaut und welche Inhalte mehrfach abgespielt werden. Aus diesen Daten entwickelt der Algorithmus in Echtzeit ein immer genaueres Verständnis für die individuellen Vorlieben der Nutzer. Das führt dazu, dass TikTok-Nutzer oft das Gefühl haben, der Algorithmus kenne sie „besser als sie selbst“.

Die personalisierte Auswahl der von TikTok gezeigten Videos kann – so Decker – einen starken Dopamin-Kick auslösen, der zu suchtähnlichem Verhalten führen kann. Vor allem Jugendliche, die TikTok regelmäßig nutzen, laufen Gefahr, viel Zeit auf der Plattform zu verbringen, was sich negativ auf ihre Stimmung und Konzentrationsfähigkeit auswirken kann. Diese Ergebnisse sind besonders für Eltern und Schulleiter relevant, da sie zeigen, wie wichtig es ist, einen bewussten Umgang mit TikTok zu fördern und klare Grenzen für die Bildschirmzeit zu setzen, um die negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Schüler zu minimieren.

Der Autor betont in seinem Buch, wie wichtig es ist, sich nicht ausschließlich auf digitale Medien wie TikTok zu verlassen, sondern auch andere Aktivitäten wie das Lesen von Büchern und Naturerfahrungen zu fördern. Er stellt fest, dass der ständige Konsum von kurzen, schnelllebigen Inhalten auf Plattformen wie TikTok die Fähigkeit schwächt, sich auf längere Texte und tiefere Gedanken einzulassen. Bücher hingegen böten die Möglichkeit, sich in komplexere Themen zu vertiefen und kritisches Denken zu fördern.

Darüber hinaus wirbt Decker für Naturerlebnisse als wichtigen Ausgleich zur digitalen Welt. Der Aufenthalt in der Natur sei nicht nur eine Möglichkeit, Abstand von Bildschirmen zu gewinnen, sondern auch den Geist zu beruhigen und die eigene Kreativität anzuregen. Naturerlebnisse werden als eine Art „mentale Erholung“ dargestellt, die notwendig ist, um sich von der digitalen Reizüberflutung zu erholen und das eigene Wohlbefinden zu stärken.

RECODE

Im letzten Kapitel des Buches stellt Decker eine Methode vor, die eine praktische Strategie zum Schutz vor den negativen Auswirkungen von exzessiver Bildschirmnutzung und Informationsüberflutung bietet. Dieses Kapitel dürfte für Pädagogen von Interesse sein, die nach Lösungen suchen, um Jugendliche vor exzessivem Medienkonsum zu schützen. Zu diesem Zweck stellt der Autor die so genannte RECODE-Methode vor.

Sie besteht aus vier Schritten:

  1. Reflect (Reflektieren): Der erste Schritt regt zur Selbstbeobachtung an, um zu erkennen, wie und wann digitale Geräte genutzt werden. Schüler können dazu angeregt werden, sich ihrer Bildschirmzeit bewusst zu werden und Routinen zu erkennen, die zu einer ungesunden Nutzung führen.
  2. Change (Ändern): In diesem Schritt geht es darum, Routinen zu durchbrechen und die Nutzung digitaler Technologien aktiv zu reduzieren. Für Schülerinnen und Schüler könnte dies bedeuten, Push-Benachrichtigungen auszuschalten und „bildschirmfreie Zeiten“ einzuführen, z. B. während des Unterrichts oder beim Lernen.
  3. Organize (Organisieren): Hier geht es darum, die Nutzung zu organisieren und Prioritäten zu setzen. Schulen könnten „Smartphone-freie Zonen“ einrichten oder Zeiten, in denen die Nutzung der Geräte strikt begrenzt ist.
  4. Detach (Abstand gewinnen): Der letzte Schritt betont die Wichtigkeit, regelmäßig offline zu gehen, um den Einfluss der ständigen Reizüberflutung zu reduzieren. In Anlehnung an Delcker sind vor allem in Lern- und Pausenphasen feste bildschirmfreie Zeiten einzuplanen. Diese gezielten Auszeiten von der digitalen Welt helfen, die Konzentrationsfähigkeit zu fördern und Stress abzubauen. Bildungsverantwortliche könnten dies durch feste Regeln für den Umgang mit digitalen Geräten unterstützen, etwa durch “Digital-Detox-Tage” oder technikfreie Zonen in der Schule und zu Hause.

Schlussbemerkung

Zusammenfassend sieht Delcker in der Entwicklung von Mind Reading KI einen beunruhigenden Trend, der nicht nur zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führen könnte, sondern auch Gefahren birgt, wenn der technologische Fortschritt nicht reguliert wird. Er befürchtet, dass Unternehmen bald in der Lage sein könnten, nicht nur menschliches Verhalten zu steuern, sondern auch direkten Einfluss auf das Gehirn zu nehmen. Soziale Medien, die mit Hilfe von Algorithmen Vorlieben analysieren und Inhalte anpassen (z.B. TikTok), sieht er als frühen Vorläufer dieser Technologien. Aktuell gibt es bereits Fortschritte bei der so genannten „neuro-adaptiven“ Technologie, bei der Gehirn-Computer-Schnittstellen Gedanken in Sprache übersetzen können. Meta und Google forschen aktiv auf diesem Gebiet. Delcker plädiert für mehr Transparenz und Aufklärung über diese Entwicklungen sowie für die Einführung von „Neurorechten“, die den Zugriff auf Gedanken regulieren sollen. Er fordert einen bewussten Umgang mit der Technologie und betont die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte über die ethischen Implikationen dieser Technologien.

Ein lesenswertes Buch, das sich an der Alltagssprache orientiert, ohne die Wissenschaft zu banalisieren. Und: Einige Passagen werden den einen oder anderen sicher auch emotional berühren.

Wer den Autor und sein Buch näher kennen lernen möchte, hat hier (YT) die Gelegenheit dazu.

 

… Stay tuned …

P.S.:

Abseits der aktuellen Verbotsdiskussion gibt es übrigens noch einen anderen Ansatz für die Handynutzung in der Schule: Ressourcenstärkendes Adoleszenten- und Eltern-Training bei Medienbezogenen Störungen (Res@t)

Der Gebrauch digitaler Medien ist aus der heutigen Zeit kaum mehr wegzudenken. Insbesondere digitale Spiele, Soziale Netzwerke und Streaming-Dienste stoßen bei Kindern und Jugendlichen auf großes Interesse. Neben einem unbedenklichen Medienkonsum in der Freizeit, gibt es jedoch auch Konsumformen, die als riskant einzuordnen sind. Liegt so ein Konsummuster vor, sprechen wir von einer medienbezogenen Störung, weil es den Betroffenen erhebliche Probleme im Alltag bereitet. Mittlerweile erfüllen etwa vier Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland die Kriterien einer medienbezogenen Störung.

Aus diesem Grund haben wir Res@t ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um ein app-basiertes Trainingsprogramm für Kinder und Jugendliche mit einer medienbezogenen Störung und ihren Eltern, welches therapieergänzend zur kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung angeboten wird.

 

Bildnachweis: Ausschnitt Buchcover